Standpunkt von Axel H. Horns
Stellen wir uns einmal auf den Standpunkt, die ‚Magna Carta‘ aus England, gesiegelt am 15 Juni 1215, markiere so etwas wie einen Anfangspunkt des Parlamentarismus: King John von England war damals gezwungen, ein Stückchen seiner (absoluten) Macht an andere Adelige abzutreten. An allgemeine Wahlen war selbstverständlich noch nicht zu denken.
Es war eine Welt des 13. Jahrhunderts, es gab noch nicht einmal Buchdruck mit beweglichen Lettern. Alles mußte mündlich unter anwesenden Personen verhandelt werden, und nur wichtige Ergebnisse wurden auf Tierhäuten (Pergament) schriftlich fixiert. Das gemeine Volk bekam von den Ergebnissen in aller Regel – falls überhaupt – nur mündlich durch Ausrufer etwas mit.
Wie hätte man denn damals auch eine derartige Frühform des Parlamentarismus anders organisieren können als durch Repräsentanten, die sich zu ihren Verhandlungen zur vereinbarten Zeit an einem verabredeten Ort trafen? Die Medientechnik gab nichts anderes her.
Um 1439 brachte bekanntlich Herr Johannes Gensfleisch zur Laden zum Gutenberg dann den Buchdruck mit beweglichen Lettern in die Welt.
Papier war immer noch teuer (Herstellung aus Lumpen), aber man konnte jetzt daran denken, die Ergebnisse der Ausübung von Herrschaft – sei es absolute Herrschaft eines Monarchen oder auch durch Frühformen des Parlamentarismus gebrochene Herrschaft – in buchdrucktechnisch vervielfältigter Form – dem Volk bekanntzumachen. Der Verwaltungsstaat
war medientechnisch möglich geworden.
Im 19. Jahrhundert lernte man, bedruckbares Papier industriell aus Holz herzustellen. Dadurch skalierte die Verbreitung der in Textform gegossenen Ergebnisse der Gesetzgebung per Druckverfahren auf Papier erheblich besser. Zusammen mit der Alphabetisierung breiterer Bevölkerungsschichten in Europa wurde durch Medienwandel eine technische Basis für eine breitere Rezeption von Gesetzen, Verordnungen und anderen Verwaltungsvorgängen gelegt. Und es entstand eine Plattform für aktuelle Massenmedien, also Zeitungen und Magazine etc., die dieses Regierungshandeln im Rahmen und in den Grenzen der jeweils gewährten Preßfreiheit kommentieren und einordnen konnten.
Wer alphabetisiert war und über hinreichend freies Einkommen verfügte, konnte sich dadurch etwa ab dem 19. Jahrhundert auch aus der geographischen Ferne zumindest im Groben über die Vorgänge in den Macht- und Verwaltungszentren auf dem Laufenden halten.
Hinzu kommt, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert das Postwesen stark von einer elitären Dienstleistung hin zu einem industriell durchorganisierten Massengeschäft fortentwickelte.
So war es im 19. Jahrhundert durch Fortschritte in der Medientechnik möglich, allmählich einen medialen papierenen „Rückkanal“ von Bürgern zu Herrschenden zu implementieren: Einmal in einer ersten Ausprägung, in der nach Maßgabe der Herrschenden vom Bürger Angaben auf Formblättern (einer wichtigen innovation für die Verwaltungspraxis des 19. Jahrhunderts) zur Absendung an die Obrigkeit gemacht wurden, zum anderen aber auch in einer zweiten Ausprägung in Gestalt des persönlichen Briefes, den alphabetisierte Bürger beispielsweise auch an ihre Parlamentarier senden konnten.
Die hohe Latenz verbunden mit einer Schmalbandigkeit der Medien, die dort, wo es im 19. Jahrhundert überhaupt so etwas wie Parlamente gab, einen bescheidenen bidirektionalen Austausch zwischen Bürgern und Parlamentariern möglich erscheinen ließen, gab keinen Anlaß zu Utopien, in größeren Verwaltungseinheiten die repräsentative Demokratie durch direktere Verfahren der demokratischen Willensbildung abzulösen.
Man musste nach wie vor Menschen, denen man vertraute, in geographisch fixierte Zentren der Macht entsenden und hoffen, dass diese dort im Sinne ihrer Entsender handeln; nur ab und an war eine Kontrolle des Handelns der gewählten Repräsentanten durch das Wahlvolk anhand der
medialen Rückmeldungen (Gesetzesblätter, Presse, etc.) möglich. Der hohen Latenz und der Schmalbandigkeit dieser Rückkanäle entsprach der mehrjährige Zeithorizont einer Legislaturperiode, nach der Parlamente jeweils neu zu wählen waren.
Das Wahlmännerverfahren bei der Übermittlung der Stimmenergebnisse der U.S.-Präsidentschaftswahlen aus den einzelnen Mitgliedsstaaten der USA nach Washington, D.C., zum Zwecke der Ermittlung des schließlich obsiegenden Präsidentschaftskandidaten dürfte seinen Grund darin haben, dass man in der Pionierzeit der USA einem persönlich bekannten Repräsentanten (Wahlmann) mehr vertrauen zu können glaubte als papierenen Medien (Urkunden mit zertifizierten Wahlergebnissen aus den einzelnen U.S.-Staaten). Vor dem Hintergrund heutiger Medientechnik muß dies als Anachronismus erscheinen.
Die elektronischen Analog-Medien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Radio, Fernsehen) brachten eine enorme Verbreiterung eines Medien-Kanals, der Statements von den Zentren der Macht zu der Bevölkerung brachte, mit sich. Er ermangelte jedoch an Individualität der Bedürfnisbefriedigung: Wenige Programme für Alle. Wer spezielle Informationen zu bestimmen Vorgängen haben wollte, musste privilegiert sein, um in den Genuß der persönlichen Zusendung von Parlamentsdrucksachen, Gutachten etc. zu kommen.
Der Rückkanal im Brecht’schen Sinne – jeder Radiohörer zugleich auch als Sender gedacht – fand seine technische Basis wie auch die Möglichkeit individueller Informationsbeschaffung durch den Bürger erst im ausgehenden 20. Jahrhundert in Gestalt des Internet.
Dort, wo die Staatsorgane es zulassen – und es werden Schritt für Schritt immer mehr Bereiche, in denen auf politischen Druck von Bürgern hin von Regierungen, Behörden usw. Konzesionen gemacht werden müssen, man denke an parlamentarische Informationssysteme, Informationsfreiheitsgesetze etc. – kann der engagierte Bürger nun im Prinzip einen eigenen persönlichen Informationshorizont aufbauen, der in individuellen, selektiven Politikbereichen demjenigen seines gewählten Repräsentanten zumindest nahekommt. Was er in der Regel nicht hat, sind die informellen Netzwerkkontakte des gewählten Parlamentariers, die dieser mehr oder minder ortsgebunden durch jahrelangen persönlichen sozialen Umgang mit seinen Peers und mit der Lobby erworben hat.
In den Bereichen, in denen sich besonders aktive und engagierte, aber vereinzelte und nicht in Institutionen zusammengeschlossene Bürger sich durch mediale Selbstqualifikation langfristig in einen Zustand gebracht haben, von dem aus sie – was das sachliche Verständnis der jeweiligen Politikgebiete anbetrifft – Berufspolitikern auf Augenhöhe begegnen können, läßt es sich überhaupt nicht mehr verhindern, dass durch die unvermeidliche Aufdeckung von Kompetenzlücken bei Berufspolitikern deren Glaubwürdigkeit schleichend in Frage gestellt wird.
Dieser Prozeß läßt sich jedoch nicht nur aus der Perspektive des idealisierten ‘mündigen Bürgers’ erzählen: Die Lobby als institutionalisierte Interessenvertretung profitiert ebenso von der Vernichtung der Wirkung räumlicher Distanzen durch die Digitalisierung, kann diesen Gewinn jedoch kraft ihrer überlegenen Ausstattung mit Geldmitteln und der darauf basierenden Potenz, Material und Sachverstand einzukaufen, oft besser verwerten als der vereinzelte Bürger. Es ist schwer für einen gewählten Parlamentarier, dem von der wohlorganisierten Lobby in Stellung gebrachten Sachverstand argumentativ standzuhalten. Es versteht sich, dass die Lobby in diesem Sinne nicht bloß Unternehmen und Industrieverbände, sondern auch NGOs aller Art mit umfaßt.
Jede sachliche Unrichtigkeit einer Einlassung eines Parlamentariers wird zu Recht detektiert und anschließend medial aufgespießt: Entweder sie hat ihren Grund im Unwissen des Berufspolitikers, dann ist dieser dadurch objektiv disqualifiziert. Oder man vermutet ihre Ursache in der kontrafaktischen Wirkung der sozialen Vernetzung des Parlamentariers, sei es diejenige in seiner Fraktion, sei es diejenige in seiner persönlichen Verwicklung mit irgendeiner im Interessengegensatz gesehenen Lobby: Dann ist der Politiker subjektiv moralisch erledigt.
Aufgrund der besonders im 20. Jahrhundert ungeheuer gestiegenden Quantität der Gesetzgebungstätigkeit in den Industrienationen ufert auch der Stoff der per Gesetz zu regelnden Lebenssachverhalte in seiner Spezialisierung aus und führt auf die Dauer gesehen die Allgemeinbildung jedes Parlamentaries an ihre Grenzen. Er hat nur noch um den Preis einer Spezialisierung eine dünne Chance, mit kritischen Bürgern und der Lobby mithalten zu können.
Von der einstigen Herausgehobenheit des gewählten Parlamentariers, der am Sitz seines Parlamentes durch seine soziale Einbindung in seine Kollegenschaft sowie durch die dort geographisch gegebene Möglichkeit, verschriftlichte Informationen als Insider medial rezipieren zu können, privilegiert war, ist heute, im Zeitalter der Digitalisierung und des Internet, wenig geblieben. Im Gegenteil: Umgeben von hochspezialisierten Akteuren, sei es auf der Seite seiner Wahlbürger, sei es auf der Seite der Lobby, ist er der einzige noch im Spiel verbliebene Universalist, von dem erwartet wird, dass er die von allen Seiten auf ihn einprasselnden interessengeleiteten Interventionen zu durchschauen vermag. Stets schwebt er in der Gefahr, als Universal-Dilettant enttarnt zu werden.
In diesem Zwiespalt mag sich im Einzelfall dem Parlamentarier die Lobby wegen ihrer institutionalisierten Verfaßtheit eher als Ankerpunkt anbieten denn die Vielstimmigkeit der Äußerungen vereinzelter Bürger. Mit der Lobby kann man Arrangements treffen, mit tausenden einzelner Bürger praktisch nicht. Dieses durch die Digitalisierung potenzierte strukturelle Übergewicht der Lobby ist eine Grundlage des aktuellen Diskurses über eine faktische Entwicklung parlamentarischer Demokratien hin zu einem Post-Democracy-Zustand, in dem die Parlamentsherrschaft zu einer bloß noch als Ritual präsenten formalen Hülle degeneriert.
Der parlamentarische Berufspolitiker in der repräsentativen Demokratie alter Prägung, so wie wir sie heute haben, steht in einer derartigen bemitleidenswerten Lage in Versuchung, instinktiv den aktiven Bürger als Konkurrenten um die Erfassung und Deutung von Informationen zum politischen Gesamtprozeß aufzufassen.
Die schleichende Entwertung der Stellung des gewählten Parlamentariers im System der politischen Informationsdynamik führt ganz automatisch ebenso schleichend auch zu einer entsprecheden Krise der repräsentativen Demokratie. Die heute gegebene Breitbandigkeit der medientechnischen Möglichkeiten der Interaktion der Öffentlichkeit mit dem Parlamentsgeschehen läßt eine vier- oder gar fünfjährige Dauer einer Legislaturperiode ohne reale Möglichkeit von wirksamen Zwischeninterventionen der Wähler als inadequat erscheinen, ohne dass deren Verkürzung in irgendeiner Weise als Beitrag zur Problemlösung erschiene. Aus solcher Frustration speist sich Politikverdrossenheit.
Es ist dann auch nicht mehr überraschend, dass in Kreisen, in denen am Gedanken breitestmöglicher Partizipation am politischen Geschehen festgehalten wird, Leute anfangen, über medial vermittelte digitalisierte Neuformierungen demokratischer Prozesse nachzudenken; etwa unter dem Stichwort ‚Liquid Democracy‘ bei den Piraten. Dass die Lösung aber nicht ganz so einfach auf technischer Ebene zu finden ist, haben eben diese Ansätze in ihrem faktischen Scheitern bereits bei der Binnenorganisation einer Partei deutlich gemacht. Mann kann nicht einfach ein Parlament durch ein IT-System ersetzen oder ‘fernsteuern’.
Das heißt aber nicht, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Der Medienwandel in Gestalt der Digitalisierung muß (und wird) auch die repräsentative Demokratie umkrempeln. Wir wissen nur noch nicht wie. A propos ‘noch’: Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die kurzfristigen Auswirkungen medialer Transformationen häufig überschätzt, die langfristigen Folgen hingegen gerne unterschätzt werden. Was wirklich passieren wird, mag vielleicht erst in zwanzig oder fünfzig Jahren recht deutlich hervortreten.
In dieser Gemengelage sind stets auch die Apologeten des Ancien Regime zur Stelle, die das Wohlergehen der Gesellschaft nur in einer konservativen Abwehr der Auswirkungen der digitalen Medienrevolution erkennen können.
So äußerte sich kürzlich beispielsweise einem Pressebericht zufolge Dr. Thomas Darnstädt, Jahrgang 1949, promovierter Jurist mit Schwerpunkt Staatsrecht und einige Jahre Redakteur beim Spiegel als Leiter des Ressorts Deutsche Politik, auf einer unter dem Motto ‘Die Suche nach der richtigen Ordnung’ stehenden Veranstaltung des Königsberger Forums dahingehend, die virtuelle Welt bringe weit größere Gefahren für Demokratie und Gesellschaftsordnung als sie Nutzen stifte. Die repräsentative Demokratie verzichte nicht auf Elemente der Beteiligung. Medien wie Change.org kaperten regelrecht die politischen Prozesse, indem sie staatliche wie parlamentarische Institutionen umgehen und aushebeln und noch nicht einmal den Versuch machten, das zu verbergen. Das Internet ruiniere die bürgerliche Öffentlichkeit und bedrohe die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. Eine Gesellschaft sei, so Darnstädt, an Raum und ein mittels Integration zusammengeschweißtes Staatsvolk gebunden. Die digitalen Irrlichter der von ihm so genannten Lehnstuhldemokraten seien jedoch durch nichts als Schicksalsgemeinschaft ausgewiesen. Erst die Integration in Parteien, Kirchen, Vereinen schaffe Identität und lasse Verantwortung wachsen.
Es erscheint offensichtlich, dass auch Darnstädt den disruptiven Charakter der Wirkungen der Digitalisierung auf den repräsentativen Parlamentarismus sehr wohl erkennt. In seiner Resignation darüber, dass das Internet wohl einstweilen nicht wieder aus der Welt verschwinden wird, beschwört er auf geradezu gruselige Weise als einzig legitime Konstitution der Gesellschaft eine ‘Schicksalsgemeinschaft’ eines ‘mittels Integration zusammengeschweißten Staatsvolkes’. Eine die Machtverhältnisse verschiebende mediale Einbindung von gesellschaftlicher Vielfalt, die durch die Digitalisierung technisch ermöglicht wird, verwandelt sich in den Augen solcher sich als Digitalisierungs-Ludditen gebender Apologeten eines Ancien Regime zum Angriff auf eine zum Ideal verklärte analog-mediale Vergangenheit.
Der publizistischen Offenheit von Darnstädt gebührt insoweit Respekt, als zahlreiche seiner Gesinnungsfreunde es vorziehen, das breit ausgreifende Partizipation fördernde Potential der Digitalisierung aktiv zu sabotieren, ohne sich explizit als Medienverweigerer zu offenbaren.
So mußte die politisch interessierte Öffentlichkeit mit Befremden zur Kenntnis nehmen, dass seit Jahren von Führungseliten insbesondere in den USA mediale Abschottung als Gebot der Stunde erkannt und durchgesetzt wird, wenn es um politische Ziele geht, von denen vermutet wird, dass sie Anlaß zu Kontroversen geben könnten. Offiziell Kommuniziert wurde eine derartige Policy jedoch nie.
Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement ACTA war ein wichtiger Versuchsballon, mit dem erprobt wurde, ob die relative Offenheit etablierter multinationaler Organisationen – in diesem Fall der WIPO – durch institutionell ungeerdete Verhandlungen ausgehebelt werden kann. Wie wir wissen, scheiterte ACTA nach etlichen Leaks am öffentlichen Widerstand vor allem in Europa gegen seinen Inhalt. Mittlerweile wird die gleiche Taktik bei der Durchsetzung einer Reihe von als ‘Freihandelsabkommen’ getarnter, sektorenübergreifender wirtschafts- und ordnungspolitischer Globalpakte mit dem Ziel der Institutionalisierung regulatorischer Kooperation eingesetzt, etwa beim geplanten Abkommen zur Gründung einer Transpazifischen Partnerschaft (englisch Trans-Pacific Partnership, kurz TPP) oder bei einem anderen geplanten Abkommen zur Gründung einer Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (englisch Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP).
In beiden Fällen weigern sich die involvierten Verhandlungspartner – wohl vornehmlich auf Druck der USA – Zwischenstände der Verhandlungen in Gestalt von offiziellen Verhandlungsdokumenten offenzulegen, obgleich eine offene Informationspolitik über das Internet keine signifikanten Kosten verursachen würde. Im Gegensatz zu dem schließlich gescheiterten ACTA-Projekt scheint bislang die Abschottung durch Geheimhaltung zu funktionieren. Das politische Ziel dieser Taktik dürfte darin liegen, nach einem Abschluß der diplomatischen Verhandlungen das Ergebnis den betroffenen Parlamenten mit einer Attitüde des ‘take it or leave it’ zur Ratifikation vorzulegen, ohne dass noch Optionen zur Modifikation des Textes eröffnet werden. Kritik aus Parlament und Öffentlichkeit werden dann planmäßig durch eine Argumentation beiseitegefegt werden, der Abschlußtext sei das Beste, was herauszuholen gewesen sei, und eine Gesamt-Ablehnung durch das Parlament würde schwere politische und wirtschaftliche Nachteile nach sich ziehen. Das Einknicken parlamentarischer Opposition ist dann absehbar.
Da die Verhandlungsdokumente zu TPP und TTIP derzeit nicht bekannt sind, ist eine finale Beurteilung der politischen Wünschbarkeit ihrer Gegenstände derzeit kaum möglich. Gleich, wie dieses Urteil nach einer Veröffentlichung ihrer jeweiligen Endfassungen im einzelnen ausfallen wird, sollte schon jetzt festgehalten werden, dass die Art der medialen Abschottung des Verhandlungsgeschehens gegenüber der Informationsverbreitung über das Internet modellhafte Züge trägt. Auch wenn ACTA, TPP und TTIP von ihren jeweiligen Regelungsgegenständen her auf den ersten Blick nicht als vorrangig netzpolitische Themen erkennbar sein mögen, so ist der Satz ernst zu nehmen, dass Netzpolitik stets Gesellschaftspolitik ist. Im Umkehrschluß folgt für die politischen Funktionseliten unserer Zeit nämlich daraus, dass jede Gesellschaftspolitik immer auch eine netzpolitische Komponente aufweist. Wer seine Macht aus einer Position des Ancien Regime heraus zu verteidigen und durchzusetzen sucht, muß das Internet in sein Kalkül aufnehmen. Aus der Sicht einer Generation von Machiavelli-Adepten in unseren politischen Funktionseliten scheint dies derzeit zu bedeuten, möglichst wenig Dokumente aus dem eigenen Geschäftsbereich an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, da andernfalls deren unverzügliche Streuung durch digitale Medien das althergebrachte Diskursgefälle zwischen Machtelite und Bürger untergraben müßte.
Ist es genau das, was wir erleben, wenn wir hören, dass diejenigen Parlamentarier, die ein Amt in der Bundesregierung gefunden haben, uns schon einmal vorbeugend erklären, dass sie nicht daran denken, wesentliche Teile ihres Akten-Wissens über den NSA-Skandal zur Verfügung zu stellen, obwohl insoweit noch gar keine konkreten Anträge gestellt worden sind? Denn die Bereitstellung von Akten für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß zielt letztendlich ja nicht wirklich nur auf die dort primär angesprochenen Parlamentskollegen, sondern auf die allgemeine Öffentlichkeit, die durch offizielle Berichte oder durch Leaks eher früher als später erfahren wird, was dort verhandelt wurde. Und jedes Stückchen regierungsamtlich geheimgehaltenen Insider-Wissens, das über den Ausschuß seinen Weg nach außen findet, wird unweigerlich zum Ausgangspunkt für weitere und noch präzisere Fragen aus der Öffentlichkeit werden, und zwar im Digitalzeitalter in Blogs, auf Facebook oder Twitter ungefiltert durch aus der Zeit der Analogmedien wohlvertraute Gatekeeper in den Redaktionen der Mainstream-Massenmedien wie Presse und Fernsehen.
Die Digitalisierung erweist sich somit als Strukturverstärker: Bestimmte Gegensätze, die schon aus dem Analog-Zeitalter wohlbekannt sind, treten uns im Zeitalter der Digitalisierung plötzlich in einer in das Ungeheure vergrößerten Skalierung entgegen. So ist beispielsweise auch die Polarität der Vorstellung eines gläsernen Bürgers einerseits gegenüber der Vorstellung eines transparenten Staatswesens andererseits keinesfalls neu. Aber das quantitative Maß der Durchsichtigkeit, das das einzelne Individuum im Röntgenapparat der globalen Digital-Totalerfassung aller Kommunikationsvorgänge etwa durch die NSA hinnehmen muß, sprengt ebenso den Rahmen aller vorstellbaren Analog-Überwachungsphantasien des 20. Jahrhunders wie andererseits die durch Digitalisierung und Vernetzung im Raum der Möglichkeiten theoretisch vorstellbare Transparenz des Regierungs- und Verwaltungshandelns gegenüber praktischen Grenzen papierbasierter Akteneinsicht früherer Tage. Der alte Gegensatz zwischen dem Individuum als gegenüber staatlicher Gewalt zu schützenden quasi-autonomem Subjekt einerseits und dem Individuum als sich unterordnendem Glied in Gesellschaft und Gemeinschaft erscheint umso größer zu werden, je mehr man sich in die Details einer auf einer digitalen Medien-Infrastruktur basierenden Gesellschaft hineinzoomt.
Aber diese digital verstärkte Struktur-Dichotomie erleben wir hier und jetzt nicht auf einer horizontal austarierten Bühne, die beiden Seiten gleiche Chancen läßt. Nach einer Phase der Euphorie, die grob auf das Jahrzehnt 1995 bis 2005 gelegt werden könnte, in der der Zuwachs an Möglichkeiten durch das Internet für den einzelnen Bürger im Vordergrund zu stehen schien, erkennen wir jetzt, am Ende des ersten Jahres nach Snowden, dass wir auf einer schiefen Ebene stehen: Während sich staatliche Institutionen erdumspannend äußerst erfolgreich der digitalen Totalerfassung aller Lebensbereiche aller Individuen widmen, verengen sich neuerdings die Zugriffsmöglichkeiten der politischen Öffentlichkeit auf offizielle Dokumente der Staatsorgane von Jahr zu Jahr: Das Spiel hat massive Schlagseite zugunsten der Stärke und Handlungsfreiheit staatlicher Institutionen. Die Interessen des freien Individuums drohen im Strudel des durch die Digitalisierung entfesselten Medienwandels unterzugehen.
Wo soll diese Entwicklung enden?
Wer eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung anstrebt, in der die Freiheit des Individuums auch gegenüber staatlicher Gewalt verteidigt wird, muß sich Gedanken darüber machen, wie die derzeitige Benachteiligung der Bürger umgekehrt werden kann. Wenn Politik vornehmlich als das Schaffen von Strukturen verstanden wird, müssen wir uns derzeit aber wohl eingestehen, dass möglicherweise die Zeit noch nicht reif sein könnte, fertige Strukturmodelle für den geänderten institutionellen Aufbau eines freiheitlichen und demokratischen Staates nach der digitalen Revolution anzugeben. Vielleicht ist daher Kreativität und Mut zum Experiment das Gebot der Stunde.