Diesjähriger Preisträger des Ehrenpreises für digitales Engagement ist Open Parliament TV, die in einer Zeit, in der Demokratien weltweit ins Hintertreffen geraten und auch in Deutschland das Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit sinkt, mit ihrer Arbeit ein starkes Zeichen für Transparenz, Glaubwürdigkeit und Partizipation setzen. Open Parliament TV setzen sich für digitale Demokratie und durch innovative Ansätze für politische Bildung und Beteiligung der Zivilgesellschaft ein.
Mit dem Ehrenpreis für digitales Engagement zeichnen wir zusammen mit der Thomas-Dehler-Stiftung herausragende Initiativen aus, die durch digitale Innovation und Engagement zur Stärkung der Demokratie und zum Schutz von Bürgerrechten im digitalen Raum beitragen.
Über den Preisträger Open Parliament TV
Diese Ziele werden von der Thomas-Dehler-Stiftung und von LOAD e.V. geteilt. Auch ihr Ansatz, Parlamentsdebatten unter freier Lizenz zu veröffentlichen, Ihre Suchmaschine dezentral implementier- und frei weiterentwickelbar zur Verfügung zu stellen und deren Potenzial für die digitale Demokratie und weitere Kooperationen zu nutzen, verbindet uns mit dem Engagement von Open Parliament TV.
Der Preis ist am 13.11.2024 durch die Thomas-Dehler-Stiftung und LOAD e.V. an Joscha Jäger - Co-Director Open Parliament TV - übergeben worden.
Über Joscha Jäger
Joscha Jäger ist Creative Technologist an interaktiven Videotechnologien und explorativer Videosuche. Er hat in seiner Arbeit einen starken Fokus auf Film als offene Informationsarchitektur und web-natives Medienformat. In den letzten fünf Jahren hat er sich darauf konzentriert, Parlamentsdebatten transparenter und besser zugänglich zu machen. Im Jahr 2020 hat er „Open Parliament TV” gegründet und verwendet all seine Zeit und Ressourcen darauf, auch im Jahr 2060 noch an dieser Mission zu arbeiten.
Laudatorin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - Vizepräsidentin der Thomas-Dehler-Stiftung, stellv. Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Bundesministerin der Justiz a.D. - hielt die nachfolgende Laudatio an den Preisträger Open Parliament TV [PDF].
Laudatio von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an den Preisträger „Open Parliament TV“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Preisträger, liebe Gäste,
wir leben in turbulenten Zeiten. Im Osten haben wir den Aggressor Putin, der in seinem imperialistischen Wahn ein Land überfallen hat und seitdem die regelbasierte Weltordnung in Frage stellt; ja, er tritt sie mit Füßen. Im noch ferneren Osten erleben wir einen Staatschef Xi, der Imperialismus mit viel Geld betreibt und viele Staaten bewusst in Abhängigkeit von China bringt, der deutschen Wirtschaft mit einem unfairen Wettbewerb schadet und die Menschenrechte in seinem Überwachungsstaat massiv verletzt. Auch er missachtet die internationale Weltordnung. Und in den USA ist mit der Rückkehr von Donald Trump in das Weiße Haus ein Präsident erneut an der Macht, der mit Hetze, mit Lügen, mit Desinformation und vulgärer Sprache der größten westlichen Demokratie den Kampf angesagt hat.
Drei Präsidenten dreier unterschiedlicher Staaten, die eines eint: Die Menschenrechte spielen keine Rolle. Und die Demokratie wird verächtlich gemacht. Werte, die für uns unverzichtbar zum Heute gehören.
Eine globale Gemengelage, bei der einem schon schwindelig werden kann. Dabei habe ich die andauernden Konflikte im Nahen und mittleren Osten, die uns hier in Deutschland und Europa auch unmittelbar betreffen, noch gar nicht erwähnt.
In einer solchen Lage ist es umso wichtiger, nicht den Überblick zu verlieren und hierfür vertrauensvolle Informationsquellen zu Rate ziehen zu können. Ich freue mich, dass wir mit unseren Preisträgern von Open Parliament TV heute eine Organisation ehren können, die bei beidem weiterhilft. Den Überblick zu wahren und vertrauensvolle Quellen zu bieten. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.
Zuerst kann ich mir aber einige Bemerkungen zur aktuellen politischen Lage nicht verkneifen.
Ganz Deutschland – und tatsächlich auch große Teile der Welt – reden über das Aus der Ampel und die daraus erwachsene Regierungskrise in Deutschland. Auch wenn ich verstehen kann, dass alle so schnell wie möglich in den Wahlkampfmodus wechseln wollen, nachdem die Ampel letzte Woche implodiert ist und ein Termin für die Neuwahl jetzt schon feststeht, kann ich nur dazu raten, dass man dies nicht allzu überhitzt tut. Denn die Neuwahl muss zum einen, auch in der Kürze der Zeit, gut vorbereitet werden. Und zum anderen sollte die aktuell fragile Zeit nicht dazu führen, dass sich Einzelne zu Aussagen versteigen, die dazu führen, dass man sich nach der Wahl nicht mehr in die Augen schauen kann.
Drei Jahre hat die FDP in der Ampel mitregiert. Sie ist dazu nicht gezwungen worden. Und die Ampel-Regierung hat gerade im Bereich der Innen- und Rechtspolitik einiges bewirkt und insbesondere Schlimmeres verhindert. Die Handschrift der FDP ist dabei unverkennbar.
Ich könnte dafür viele Beispiele anbringen, aber nenne nur einige, die besonders in der öffentlichen Diskussion standen: durch die Ampel wurde standhaft die Einführung einer sogenannten „Chatkontrolle“ in Europa und der uferlose Abgleich von Internetdaten mit biometrischen Merkmalen in Deutschland verhindert. Auch gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung hat sich die Ampel lange gestemmt, aber hat zum Schluss nicht mehr die Kraft gefunden, den schon lange existierenden Alternativvorschlag, den ich schon in meiner Zeit als Justizministerin ausgearbeitet habe, zu beschließen.
Das aktuelle rechtspolitische Vakuum wird von der Union natürlich direkt ausgenutzt, um Lieblingsforderungen unterzubringen, die sie in einer neuen Konstellation nicht so einfach durchsetzen könnte. Das Gespenst der Vorratsdatenspeicherung geht wieder um. Auch wenn die Idee schon vor 14 Jahren in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht beerdigt wurde, wird die Union nicht müde diese Idee immer wieder aus der Mottenkiste zu holen.
Schon an dieser Stelle könnte ich die Brücke zu unseren Preisträgern bauen, weil sie sich in vorbildlicher Weise dafür einsetzen, dass solche Debatten, die auch vor 10 Jahren in ähnlicher Weise geführt wurden, in einer zugänglichen Weise neu erschlossen werden können.
Davor will ich aber noch einen letzten Punkt machen, der mir in der Vorrede sehr wichtig ist.
Zu Beginn habe ich die globale Gemengelage erwähnt, in der wir uns befinden und die uns auch in Deutschland beeinflusst. Es gibt aber auch ganz hausgemachte Probleme, die nicht einfach so über uns gekommen sind, sondern sich aufbauen konnten, weil wir sie nicht ernst genug genommen haben. Ich rede über die allgegenwärtigen Gefahren für unsere Demokratie in Form rechtsextremistischer Parteien und auch von Linkpopulisten. Sie bedienen sich alle einem ähnlichen „Playbook“ – wie man es neudeutsch gerne nennt. Desinformation, Manipulation, einseitige Zuspitzungen und Schuldzuweisungen bis hin zu Beleidigungen, Hass, Hetze verderben das Klima für den demokratischen Diskurs.
Es sind Verfassungsfeinde und Systemverächter, die auf unterschiedliche Weise unsere liberale Demokratie schwächen, ja sogar zerstören wollen.
Umso wichtiger sind heute Informationen über Fakten, fundierte Argumente und Haltungen.
Dafür braucht es vertrauenswürdige Informationsquellen. Diese gibt es eigentlich zu Genüge.
Öffentliche Stellen und Institutionen werden immer transparenter und stellen viele Informationen öffentlich zur Verfügung. Darunter auch der Deutsche Bundestag und viele Landesparlamente.
Warum schwindet trotz dieser vielen öffentlich verfügbaren Informationen das Vertrauen in demokratische Institutionen?
Abschließend kann ich darauf keine Antwort geben. Es ist die Angst vor Veränderung, die nicht überblickt wird. Es ist fehlende Eigeninitiative, zu wenig Risikobereitschaft. Es ist die rechtspopulistische Verführung, die mit ihrer verantwortungslosen Vereinfachung den Protest gegen die da oben, gegen die sogenannte Elite, systematisch betreibt und sich Sündenböcke rausgesucht hat: Die Migrantinnen und Migranten und Jüdinnen und Juden. Es sind auch die unsicheren Zeiten mit Kriegen in unserer Nachbarschaft, die es Faschisten erleichtern, Rattenfänger zu sein.
Aber zusammengefasst ist es sicher die Kapitulation vor der schier endlos erscheinenden Komplexität. Und der Fülle an Informationen, die der Einzelne auch verarbeiten und einordnen können muss.
Wenn ich die Mediathek des Deutschen Bundestages öffne oder das Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien, dann bekomme ich erstmal keine Antworten, sondern lediglich eine Flut von Informationen.
Und jetzt bin ich bei unserem Preisträger. Als ich das erste Mal Ihre Website besucht habe und die einfach gehaltene Suchmaske, war ich sofort begeistert. Zuerst habe ich das Thema „Vorratsdatenspeicherung“ eingegeben und erhielt 339 Reden als Treffer. Die Daten, die Sie in Ihrer Datenbank verknüpft haben, reichen zurück bis zum 1.10.2013. Also wurde in den letzten 10 Jahren das Thema Vorratsdatenspeicherung in über 300 Reden thematisiert. Ich wusste ja, dass das Thema ein Dauerbrenner ist, aber mit dieser Menge an Reden hatte ich nicht gerechnet!
Jetzt könnte man denken, dass durch so eine Menge natürlich nicht das Problem der Komplexität beseitigt wird. Allerdings habe ich das Wichtigste noch nicht erwähnt, und hier kommen wir neben der intelligenten Suche zum einzigartigen Mehrwert ihrer Plattform. Wenn ich die Reden anklicke, die aufgefunden wurden, dann erhalte ich die markierten Textpassagen aus den offiziellen Protokollen und die Videos zu den Reden, an der exakten Stelle dieser Textpassage. Mehr Service geht nicht!
Es ist aber nicht nur ein Service, den Sie mit Ihrer Plattform liefern, sondern ein echter Dienst an unserer Demokratie!
Wie häufig hören wir zum Beispiel von der AfD, dass sie die erste oder einzige politische Kraft sei, die sich mit einem Thema auseinandersetzt. Eine solche Behauptung lässt sich mit Ihrer Suchmaschine sehr leicht entkräften. Ich habe hierzu mal einen etwas komplexeren Suchbegriff eingegeben und zwar „Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, was ja eines der Lieblingsthemen der AfD ist, unsere öffentlich-rechtlichen Medien anzugreifen. Was soll ich sagen, die Suchmaschine lieferte ein eindeutiges Ergebnis: die AfD ist bei weitem nicht die einzige und vor allem auch nicht die erste politische Kraft, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Obwohl das Thema Rundfunk natürlich schon länger besprochen wird als die Daten, die Grundlage Ihrer Suchmaschine sind.
Ich will an dieser Stelle eine kurze Passage von Ihrer Website zitieren, um unseren Gästen begreiflicher zu machen, was die Idee hinter Ihrer Suchmaschine und interaktiven Videoplattform ist:„In Videoaufzeichnungen von Parlamentsdebatten steckt ein großes ungenutztes Potential für die Digitale Demokratie. Sie sind greifbarer als Textdokumente oder Abstimmungslisten und ein leicht zugängliches „Fenster“ zu den dahinterliegenden Diskussionen, Verhandlungen und Entscheidungen.“
Genau dieser Punkt ist es, der uns bei der Thomas-Dehler-Stiftung und LOAD e.V. sofort ins Auge sprang. Sie sorgen mit Ihrer Plattform nicht nur für die Reduktion von Komplexität, die bessere Zugänglichkeit zu Informationen, die ohnehin schon verfügbar sind und auch die Möglichkeit, Aussagen zu validieren, die beispielsweise von Populisten getätigt werden, sondern schaffen auch die Möglichkeit für echte Interaktionen mit demokratischen Prozessen.
Diese Interaktionen können vielfältiger Natur sein. Ich kann mir Schulklassen vorstellen, die sich über Open Parliament TV allgemein zu einem Thema informieren. Aber auch Fachexpertinnen, die auf der Suche nach etwas ganz Spezifischem sind. Und natürlich auch die digital interessierte Community, die durch die offenen Schnittstellen und die open source verfügbare Plattform letztlich an diesem Projekt direkt mitwirken können. Auch dieser Ansatz, Ihre Suchmaschine dezentral implementier- und frei weiterentwickelbar zur Verfügung zu stellen und deren Potenzial für die digitale Demokratie weltweit nutzbar zu machen, verbindet uns mit Ihrem Engagement.
Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung und machen vorhandenes Material einem großen Interessentenkreis einfach zugänglich. Dass damit nicht in großem Umfang die erreicht werden können, die sich von der liberalen Demokratie abgewandt haben und in ihrer Infoblase leben, ist zwar zutreffend, aber bedeutet keine Abstriche an der Bedeutung Ihres Programms. Für die bräuchten wir vielleicht einen einheitlichen Staatsfunk, der nur eine Meinung indoktriniert und das Denken und Reflektieren überflüssig machen soll. Denn hinterfragende Bürgerinnen und Bürger hat kein Autokrat, kein illiberaler Demokrat gern.
Sie setzen mit Ihrem Programm auf den selbständig denkenden Menschen, der gerade nicht bevormundet werden will und geben ihm die Möglichkeit, gut begründet zu argumentieren.
Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass der vernunftbezogene Bürger in der Mehrheit in Deutschland ist und genau das will.
Mit Ihren Einsatzmöglichkeiten setzen Sie sich bei Open Parliament TV in einer Weise für unsere Demokratie ein, die sowohl der Thomas-Dehler-Stiftung als auch LOAD e.V. sehr am Herzen liegt: durch die Förderung politischer Bildung und Unterstützung der digitalin Zivilgesellschaft.
Aber lassen Sie mich auch einen kritischen Punkt anmerken. Sie erfassen die Dokumente seit dem 1.10.2013. Warum nicht eher? Denn zu diesem Zeitpunkt 2013 bin ich aus dem Bundestag nach der für die FDP verlorenen Bundestagswahl ausgeschieden. Und deshalb gibt es von mir keine Reden in Ihrem Open Parliament TV. Das ist ein echtes Defizit für Ihr tolles Programm.
Aber ein sehr subjektives und egoistisches Defizit, das Sie nicht ernst nehmen sollten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch den kurzen Begründungstext für die Verleihung des Ehrenpreises verlesen:„OPEN PARLIAMENT TV setzt sich dafür ein, dass Debatten in Parlamenten transparenter, zugänglicher und besser verständlich werden. Durch Ihre interaktive Videoplattform warden Meinungen und Entscheidungen aller politischen Ebenen sichtbar und tragen so zur Vertrauensbildung in die parlamentarische Demokratie bei.“
Mit dem Ehrenpreis für digitales Engagement zeichnen die Thomas-Dehler-Stiftung und LOAD e.V. herausragende Initiativen aus, die durch digitale Innovation und Engagement zur Stärkung der Demokratie und zum Schutz von Bürgerrechten im digitalen Raum beitragen.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Jäger, stellvertretend für Open Parliament TV zur Verleihung dieses Ehrenpreises und freue mich, dass wir nach den Initiativen „Save the Internet" und „Reclaim your face“ einen weiteren würdigen Preisträger haben.Vielen Dank!
(Es gilt das gesprochene Wort)
Verleihung des Ehrenpreises für digitales Engagement
Im Anschluss fand eine Paneldiskussion zum Thema "Vertrauen durch Transparenz - wie Open Data und Digitalisierung die Demokratie stärken" mit allen Beteiligten statt, welche von unserem Vorstandsmitglied Uwe Probst moderiert wurde.
Zu guter Letzt
Der letzte Preisträger war übrigens die Organisation RECLAIM YOUR FACE , welche den Preis 2022 entgegennahm. Hier ein paar Eindrücke der Veranstaltung: https://load-ev.de/2022/12/02/ehrenpreis-reclaim-your-face/